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Er hatte sie verstimmt, wahrscheinlich verletzt, und obwohl ihm fast den ganzen Tag über eine Entschuldigung auf der Zunge lag, hielt Tegan sie zurück. Schließlich musste er sich für gar nichts entschuldigen. Er war dieser Frau nichts schuldig, und am allerwenigsten Erklärungen, warum er sich aufführte wie der herzlose Bastard, als der er allgemein bekannt war.

An ihre Bitte, ihr dabei zu helfen, ihre übersinnliche Gabe in den Griff zu bekommen, würde er keine Sekunde verschwenden.

Sie hatte ihn überrascht mit dieser Idee. Die Vorstellung, dass eine Frau, und dazu noch eine behütete Witwe aus den Dunklen Häfen wie Elise, auch nur daran denken konnte, sich ihm anzuvertrauen, aus welchem Grund auch immer, ging über seinen Horizont. Als ob er einer wäre, dem man bei so etwas trauen konnte.

Klar. Kam überhaupt nicht in Frage.

Elise machte es ihm leicht, dem Thema auszuweichen. In den Stunden, seit er sie mit ihrer Bitte hatte auflaufen lassen, hatte sie kein Wort mehr gesagt. Sie machte sich in der Wohnung zu schaffen, machte das Bett, spülte das Frühstücksgeschirr, staubte das Regal ab, trainierte dann dreißig Minuten auf dem Stepper und hielt sich generell so weit von ihm entfernt, wie das bei den beengten Verhältnissen in ihrer Wohnung möglich war.

Vor einer Weile hatte er ihr beim Duschen zugehört und sich dabei auf seinem Platz am Boden ein kurzes Nickerchen gegönnt, aber nun war die Dusche wieder aus und er wach, und er hörte Elise dabei zu, wie sie sich hinter der geschlossenen Tür anzog. Sie kam in Jeans und einem Kapuzenshirt mit dem Schriftzug der Harvard-Universität heraus, das ihr fast bis zu den Knien reichte. Ihr kurzes, blondes Haar hatte sie mit dem Handtuch trocken gerubbelt und es glänzte wie Gold, was das blasse Violett ihrer Augen gut zur Geltung brachte.

Augen, die ihn kühl musterten. Dann ging sie zum Flurschrank und zog eine weiße Daunenweste von einem Kleiderbügel. Sie beugte sich in den Schrank und zog ein Paar braune Wildlederstiefel hervor.

„Was machst du?“, fragte Tegan, als sie sich wortlos ausgehfertig machte.

„Ich muss raus.“ Sie schloss die Schranktür und zog den Reißverschluss der dicken Weste zu. „Wie du vielleicht bemerkt hast, ist mein Kühlschrank praktisch leer. Ich habe Hunger. Ich muss etwas essen, und dazu muss ich ein paar Sachen einkaufen.“

Tegan stand auf, er war sich bewusst, dass er ein finsteres Gesicht machte. „Die Trance wird nicht halten, wenn du rausgehst.“

„Dann muss ich es wohl ohne sie schaffen.“

Ungerührt ging Elise zum Küchenblock hinüber und nahm sich den MP3-Player, der dort lag. Sie steckte das schmale schwarze Gehäuse in die vordere Tasche ihrer Jeans, zog die Kopfhörer unter ihrem Sweatshirt durch und ließ sie durch den Ausschnitt vor ihrer Brust baumeln. Den Dolch, der seit ihrer Lakaienjagd gestern Abend auf der Küchenablage lag, ließ sie liegen, und Tegan konnte auch keine anderen Waffen an ihr entdecken.

Sie sah ihn nicht an, als sie die Kapuze ihres Sweatshirts über den Kopf zog. „Ich weiß nicht, wie lange ich weg bin. Wenn du gehst, bevor ich zurück bin, würde ich es zu schätzen wissen, wenn du abschließen könntest. Meine Schlüssel habe ich.“

Verdammt. Sie mochte hungrig sein, wie sie sagte, aber ihrer geraden, entschlossenen Haltung war anzusehen, dass sie etwas im Schilde führte.

„Elise“, sagte er und trat näher an sie heran, als sie nach der Wohnungstür griff. Ein Gedanke würde schon ausreichen, um sie aufzuhalten, wenn er das wollte. Das wusste er, und ihrem Blick nach zu urteilen, mit dem sie sich jetzt zu ihm umdrehte, wusste sie es auch. „Ich weiß, du bist wütend darüber, was ich vorhin sagte, aber es ist nun mal die Wahrheit. Du bist einfach nicht in der Verfassung, um so weiterzumachen.“

Als er wieder einen Schritt auf sie zutrat, und eben zu dem Schluss kam, dass er ihr genauso gut sagen konnte, was er vorhatte - nämlich, sie zu ihrer eigenen Sicherheit in ihren Dunklen Hafen zurückzubringen -, packte sie den Türknopf, drehte ihn um und riss die Tür auf.

Eine effektivere Waffe gegen ihn hätte sie nicht finden können.

Von Gang und Foyer strömte helles nachmittägliches Sonnenlicht herein. Mit einem Zischen fuhr Tegan zurück. Er sprang aus der Bahn der sengenden Strahlen, und unter seinem Arm hindurch, den er sich schützend vor die Augen gerissen hatte, sah er Elise, wie sie ihm einen vielsagenden Blick zuwarf und dann ruhig nach draußen ging und die Tür hinter sich zuzog.

 

Elise ließ sich Zeit damit, zum Lebensmittelgeschäft an der Ecke zu gehen und dort ein paar Grundnahrungsmittel einzukaufen.

Dann schlenderte sie mit der Einkaufstüte den Gehsteig entlang, fort von ihrem Häuserblock. Die kalte Luft brannte ihr auf den Wangen, aber sie brauchte die Kälte, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Tegan hatte recht damit gehabt, dass sich die Trance verflüchtigen würde, sobald sie ihre Wohnung verließ. Unter dem Kreischen der elektrischen Gitarren und dem schreienden Gesang der Rockmusik, die aus Camdens iPod in ihre Ohren dröhnten, konnte sie das Summen von Stimmen hören, das ätzende Knurren menschlicher Verkommenheit und die üblichen Beschimpfungen, die ihre ständigen Begleiter waren, seit sie diese düstere Reise aus dem Refugium ihres Dunklen Hafens angetreten hatte.

Sie musste zugeben, dass Tegans mentale Intervention ein willkommenes Geschenk gewesen war. Obwohl er sie wütend gemacht hatte - sie beleidigt hatte -, waren die Stunden, die sie im schützenden Kokon seiner Trance verbracht hatte, so überaus notwendig gewesen. Diese Ruhepause hatte ihr Zeit gegeben, nachzudenken und sich zu konzentrieren, und in der inneren Ruhe, die sie unter der langen, heißen Dusche empfunden hatte, war ihr wieder etwas eingefallen. Ein spezifisches Detail zu dem Lakaien, den sie gestern gejagt hatte.

Er hatte versucht, eine Luftfrachtsendung abzuholen, für denjenigen, den er seinen Meister nannte. Der Lakai - wenn sie sich nicht täuschte, hatte er seinen Namen mit Raines angegeben - war aufgebracht gewesen, weil die Lieferung nicht wie erwartet eingetroffen war. Was konnte ihm so wichtig sein?

Oder vielmehr, was konnte dem Vampir so wichtig sein, der ihn erschaffen hatte?

Das wollte Elise herausfinden.

Es hatte sie gekribbelt, endlich ihre Wohnung verlassen zu können, seit ihr diese faszinierende Einzelheit wieder eingefallen war, aber ein recht massiger und arroganter Stammeskrieger hatte ihr dabei im Weg gestanden. Da Tegan der Ansicht war, dass sie zum Kampf gegen die Rogues nichts beitragen konnte, sah Elise keinen Grund, ihn mit dieser Information zu belästigen, bevor sie sich nicht sicher war, was sie zu bedeuten hatte.

Sie brauchte mehrere Minuten, um die FedEx-Niederlassung beim Bahnhof zu erreichen. Eine Weile stand Elise draußen herum, legte sich einen Plan zurecht und wartete ab, bis die Handvoll Kunden im Laden ihre Transaktionen getätigt hatten und herauskamen. Als der letzte Kunde dem Ausgang zustrebte, zog Elise die Kopfhörer heraus und ging auf den Schalter zu.

Der Schalterangestellte war derselbe junge Mann wie am Vortag. Als sie näher kam, nickte er ihr grüßend zu, aber zum Glück schien er sie nicht wiederzuerkennen.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Elise nahm einen tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen, sie musste sich anstrengen, um sich durch die Kakofonie hindurchzuarbeiten, die sich ohne ihre Krücke, den iPod, jetzt in ihrem Kopf zusammenbraute. Ihr blieb nicht viel Zeit.

„Ich möchte ein Päckchen abholen, bitte. Es hätte gestern schon ankommen sollen, hat sich aber wegen dem Sturm verspätet.“

„Name?“

„Ähm, Raines“, erwiderte sie und versuchte ein Lächeln.

Der junge Mann sah zu ihr auf, während er etwas in seinen Computer eingab. „Jau, ist angekommen. Kann ich Ihren Ausweis sehen?“

„Bitte?“

„Führerschein, Kreditkarte … und ich brauche auch noch eine Unterschrift von Ihnen.“

„Ich hab keine. Ich meine, ich hab sie nicht dabei.“

Der Angestellte schüttelte den Kopf. „Ohne dass Sie sich mir gegenüber ausweisen, kann ich Ihnen nichts rausgeben. Tut mir leid, das ist die Vorschrift, und ich kann mir nicht leisten, diesen Job zu verlieren, so mies er auch ist.“

„Bitte“, sagte Elise. „Es ist wirklich wichtig. Mein … mein Mann war gestern hier, um es abzuholen, und er war sehr verärgert über die Verspätung.“

Sie konnte spüren, wie Feindseligkeit in dem Angestellten aufwallte, als er sich an den Lakaien erinnerte. Er dachte an Baseballschläger, dunkle Hintergassen und gebrochene Knochen. „Tut mir leid, Lady, aber Ihr Mann ist schon eine üble Type.“

Elise wusste, dass sie nervös wirkte, aber im Moment war ihr das eher nützlich. „Er wird gar nicht erfreut sein, wenn ich ohne dieses Päckchen nach Hause komme. Hören Sie, ich muss es haben.“

„Nicht ohne Ausweis.“ Der junge Mann sah sie lange an, fuhr sich mit der Hand übers Kinn und das Dreieck von spärlichen Barthaaren, das unter seiner Unterlippe spross. „Ich schätze, wenn ich es einfach auf dem Tresen lassen würde und auf eine Zigarettenpause nach hinten gehe, könnte das Päckchen ja Beine bekommen und sich verdünnisieren, solange ich fort bin.

So was passiert schließlich ab und zu …“

Elise hielt dem lauernden Blick des jungen Mannes stand.

„Das würden Sie tun?“

„Nicht umsonst.“ Sein Blick fiel auf die Kopfhörer, die aus dem Kragen ihres Sweatshirts baumelten. „Ist es das neue Modell? Das mit Video?“

„Oh, das ist nicht …“

Elise wollte schon ablehnend den Kopf schütteln und dem Angestellten sagen, dass der iPod ihrem Sohn gehörte und sie ihn nicht weggeben konnte. Außerdem brauchte sie ihn, dachte sie verzweifelt, obwohl die Vernunft ihr sagte, dass sie sich doch hundert neue kaufen konnte. Aber dieser hier hatte Camden gehört. Er war nun ihre einzige greifbare Verbindung zu ihm, durch seine Musik, die er in den Tagen - oder vielmehr Stunden - gehört hatte, bevor er zum letzten Mal sein Zuhause verlassen hatte.

„Ach, was soll’s.“ Der Angestellte zuckte mit den Schultern und nahm das Päckchen wieder vom Schaltertisch. „Ich sollte sowieso keine Dummheiten machen …“

„Okay“, stieß Elise hervor, bevor sie ihre Meinung ändern konnte. „Gut, in Ordnung, er gehört Ihnen. Sie können ihn haben.“

Sie zog die Kabel unter ihrem Sweatshirt hervor, schlang sie um den iPod und legte das schmale schwarze Gehäuse vor dem Angestellten auf den Schalter. Es dauerte eine Weile, bis sie die Hand von ihm lösen konnte. Als sie es endlich tat, verzog sie das Gesicht in tiefstem Bedauern.

Und fester Entschlossenheit.

„Und jetzt geben Sie mir das Päckchen.“

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